Heimkommen – als Symbol


Es gibt zwei ähnliche Verben, die unterschiedliche, doch keine gegensätzlichen Bedeutungen haben: heimkommen und heimgehen.
Heimkommen steht in Verbindung mit: heimkehren, wiederkommen, zurück-kehren, heimfinden, zurückfinden, umkehren, wiederkehren. Es geht um ein Zu-rückkehren und Wiederfinden was einmal eine wichtige Bedeutung hatte. Ein Hauch von Sehnsucht klingt mit an. Das Sehnen, bei sich zu Hause zu sein.
Wohingegen Heimgehen hinweist auf: versterben; dahinscheiden, einschlum-mern, hinscheiden, sterben, umkommen, verscheiden, abberufen werden, abgerufen werden, abberufen. Durchaus auch ein Heimkommen, jedoch bezogen auf eine jenseitige Welt. Die Sehnsucht dieser Wortbedeutung verbindet den Ursprung, aus dem wir kommen und in den wir zurück kehren werden.
Beiden Wortbegriffen gemeinsam ist ein Ankommen an einem Ort, an dem wir uns geborgen und verstanden fühlen; an dem wir Eins mit uns selbst werden. Ihnen liegt keine Spaltung in Diesseits und Jenseits zugrunde. Was ich am Ende dieses Artikels aufgreifen werde.

Heimkommen verstehen wir als ein Bei-sich-selbst-zu-Hause-Sein. Dieser Zu-stand steht für ein sehr körperorientiertes Befinden. Wer nicht im Körper gegen-wärtig ist, ist nicht bei sich, lebt außer sich. Der Weg des Heimkommens führt über den Körper. Wenn jemand „außer sich“ geraten ist, hat er den Bezug zum Körper verloren, wird er bestimmt von ihn dominierenden Affekten. Auch wenn diese emotionalen Ausbrüche über den Körper ausgetragen werden, fehlt den-noch ein bewusster Bezug zum eigenen Körper. Wir stehen neben uns selbst, sind nicht Herr bzw. Frau im eigenen Haus. Die Affekte bestimmen über uns, wird sind ihnen ausgeliefert, können sie selten steuern. Je bewusster der Körper wieder wahrgenommen werden kann, desto eher kommen wir wieder zu uns selbst zurück und können mit unserem Bewusstsein wahrnehmen, was uns „geritten“ hat, von welchen durchbrechenden Emotionen wir getrieben wurden. Wieder unseres Körpers bewusst, können wir das Heft des Handelns wieder in die eigenen Hände nehmen. Wenn sich die Wogen des Affektes legen, wir den Körper als Haus unseres Ichs erfahren, können wir das als Heimkommen verstehen.
Je bewusster wir unseren Körper wahrnehmen, desto bewusster leben wir in un-serem „Heim“. Als imaginative Körperübung verwende ich in der Körperpsycho-therapie gerne das Bild des Hauses, das ausdrückt, wie wir uns in unserem Kör-per zu Hause fühlen. Dabei soll bei den Übenden ein inneres Bild eines Hauses aufsteigen, das stellvertretend ausdrückt, wie sie sich in ihrem Körper zu Hause fühlen. Dieses Bild unseres Körperhauses drückt aus, wie wir in der Welt stehen und wie wir uns der Welt präsentieren. Würden wir in einem nächsten Schritt die Innenräume des Körper-Hauses betrachten, böte dies einen Zugang, wie wir uns in der Welt eingerichtet haben, über welche innere Ausstattung wir verfügen, um von Innen nach Außen in die Welt zu treten. Die Außenseite des Hauses, die Fassade, stellt ein anderes In-der-Welt-Sein dar als die Innenseite mit ihren zu bewohnenden Innenräume.

Noch vor dem Entwickeln unserer Sprache kommunizieren wir über unseren Körper. Viel mehr noch erfahren wir die Welt rein körperlich. Alles Welt-Erleben ist Körper-Erleben. Was es zu erfassen gilt, wird sich einverleibt (orale Phase). Das Bemächtigen geschieht im Ausverleiben innerer Produkte (anale Phase).
Der körperliche Ausdruck ist unsere unmittelbare auch heute noch spontane Ausdrucksmöglichkeit. Es fällt nicht immer leicht körperliche Empfindungen und Gefühle zu versprachlichen. Da fehlen uns nicht selten die Worte, da finden wir keine uns verständlich machenden Worte für unser Körpererleben. Wir verfallen dann all zu schnell in wertende Begrifflichkeiten, die jedoch das eigentliche kör-perliche Erleben nicht nachempfinden lassen.
Das Gefühl, sich verstanden zu wissen, bezieht sich durchaus nicht nur auf die verbale Kommunikation sondern auch auf die körperliche Kommunikation, auf den Körperausdruck. Stimmen verbale und non-verbale, d. h. körperliche Kom-munikation nicht überein, kommt es zu Verstimmungen, zu möglichen Missdeu-tungen, weil sprachlich Formuliertes nicht mit dem begleitenden körperlichen Ausdruck übereinstimmt.

Jede Form von Tanz vollzieht sich über den Körper. Die Choreographie spricht zuerst den Körper der Tanzenden an, nimmt ihn mit und führt ihn auf den Weg des Tanzes. Die Choreographie will sich verkörperlichen, will zum bewegten Kör-per werden. Die Choreographie bietet sich - von außen vorgegeben - an, um übernommen und erfüllt zu werden. Der in Bewegung geratene Körper wiederum spricht Seele und Bewusstsein an, wie das Aufgenommene erlebt und empfunden wird. Die reine Form der Choreographie kann von der Seele über den Körper zum ureigenen Ausdruck genutzt werden.
Der Körper ist Medium zwischen Innen und Außen; zwischen dem In-nen(er)leben, das sich nach Außen ausdrückt, sich vermitteln möchte und eine innere Botschaft nach Außen transportieren möchte.
Wenn Tanzende nicht in ihrem Körper sind, sie nur formal die Anforderungen der choreographischen Vorgaben erfüllen, fehlt der notwendige emotionale Ausdruck, kommt es zu keiner inneren Kommunikation zwischen Körpererleben, seelischem Bewusstsein und Substanz der Choreographie. Bei darstellendem Tanz kommt im wahrsten Sinne des Wortes nichts rüber, verstehen die Zuschauenden nicht, was vermittelt werden soll, weil der Körper nicht (mit Bewusstheit) besetzt ist und folglich auch nichts erzählen kann. Reproduziert wird nur Form, kein Inhalt.

Beim Meditativen Tanz geht es m. E. nicht darum etwas nach Außen darzustellen, sondern es ins eigene Erleben zu bringen wie auch über das körperliche Empfinden und Erleben dem seelischen Bewusstsein zugänglich zu machen. Der Körper wäre sozusagen die Bühne und das seelische Bewusstsein das Auditorium. (Deswegen eignet sich meiner Meinung nach das Meditative Tanzen wenig als Performance.) Körperliche Präsenz und seelische Aufnahmefähigkeit sind voneinander abhängig. Das Bewusstsein für Körperempfinden und –erleben öffnet die Toren des Bewusstseins, um die im Tanz ruhenden Wirkkräfte aufzunehmen und zu verstehen. Sind wir nicht in unserem Körper, sprechen wir auch nicht unsere Seele an.
Wenn sich die Seele vom Körper angesprochen fühlt und verstanden weiß, stellt sich das tiefe Wissen und Empfinden ein, angekommen zu sein, mit sich eins zu sein, was wir als Heimkommen verstehen können.

Mein persönliches Verständnis von Meditativem Tanz steht für eine Zwiesprache zwischen Körper und Seele. Den Meditativen Tanz verstehe ich als vermittelndes Element. C. G. Jung nennt es die transzendente Funktion. Damit ist gemeint, dass der Tanz eine Brücke bilden kann zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Je intensiver die Tanzenden in ihrem Körper gegenwärtig sind, je ungestörter vom Alltagsgeschehen der Geist Körper und Tanz zu folgen vermag, desto auf-merksamer nimmt die Seele am Geschehen teil und verbindet sich mit bisher unbewussten Inhalten, inspiriert die Tanzenden, Wirkkräfte des Tanzes in sich zu integrieren.
Die Wiederholung der Tänze unterstützt und fördert die Intensität der Wechsel-beziehung zwischen achtsamer Bewusstheit und bisher unbewussten Lebensin-halten.
Das achtsame und meditative Sich-Hinein-Nehmen-Lassen kann zu einem Erle-ben des Heimkommens werden. Denn was bisher in unserem Unbewussten ver-borgen geblieben war, gehört trotzdem zu dem uns Eigenen, wird als Bestandteil unseres inneren Heimes verstanden. Es lagert sozusagen unerkannt im Keller des Heimes. Wir entdecken im Heim unseres Selbst uns bisher unbekannte, noch nicht zugängliche Lebensräume.

Als Wegweiser auf dem Weg nach Hause begegnen uns im Meditativen Tanz un-ter anderem Schritte, Bewegungen, Raumfiguren und Gebärden als Symbol. Als Symbol sprechen uns nicht die formalen choreographischen Details an, sondern deren sinnbildlicher Inhalt. Das Bewusstsein der Tanzenden erkennt in einem Symbol einen Hinweis ihm bisher unbekannte Inhalte wahrzunehmen und in die Gesamtpersönlichkeit  zu integrieren.

Unter den vielen Deutungs- und Übersetzungsmöglichkeiten von Meditation ent-spricht meinem Verständnis und Anliegen immer noch am unmittelbarsten die Übersetzung von Karlfried Graf Dürckheim. Obwohl das Wort Meditation etymologisch nicht mit „Mitte“ verwandt ist, wird Meditation umgangssprachlich durchaus mit Zur-Mitte-Kommen in Verbindung gebracht. „Zur Mitte finden“ würde dann Heimkommen bedeuten; die Mitte als Ort des Beheimatet-Seins verstehen.
Graf Dürckheim übersetzt meditari als „zur Mitte hingegangen werden“ oder auch als „von der Mitte angezogen sein“. Das spräche im Kontext dieser Überlegungen zum Heimkommen die Sehnsucht an, heimzukommen.

Beim Meditativen Tanz sich von der Mitte angezogen fühlen bezieht sich nicht nur auf die räumliche (Kreis-) Mitte, auf die wir u. a. die transzendente oder transpersonale Mitte projizieren. Darüber hinaus symbolisiert die räumliche Mitte die innere Mitte, einem seelischen Zentrum, auf das wir uns beziehen und aus dem heraus wir uns definieren können. Wie auch die geometrische (Kreis-) Mitte zwei Dynamiken kennt: vom Zentrum zur Peripherie (Extraversion) und umgekehrt von der Peripherie zum Zentrum (Introversion). In der extravertierten Sichtweise schauen wir vom Subjekt (dem Ich) zum Objekt (der Welt), richten uns an ihm aus. Hierbei wird tendenziell das In-der-Welt-Sein betont. Die vermuteten Anforderungen der Welt wollen erfüllt werden. Das „Innen“ (des Subjekts) sucht sich in der Welt zu verwirklichen.
Bei der introvertierten Einstellung richtet sich die Sicht von außen nach innen. Nicht um sich der Welt zu entziehen. Das in der Welt sein wird mehr von den Bedürfnissen des Subjektes bestimmtes.
Bei diesen energetischen Einstellungen handelt es sich nicht um Wertungen. Sie sind völlig wertfrei. Sie beschreiben den Fluss der psychischen Energie. Es wäre völlig falsch, zu meinen, nur der Introvertierte könne „Heim“ finden. Es geht vielmehr darum, diese Gegensatzspannung in sich zu integrieren; die unter-schiedlichen Einstellungen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern sie mitei-nander zu verbinden, sie sich gegenseitig ergänzen zu lassen.

Beim Meditativen Tanz ist erst einmal die Extraversion gefragt: das Erlernen der Choreographie. Etwas von außen Kommendes will übernommen und angenom-men werden. Hier vollzieht sich ein erster Schritt des Heimkommens, wenn wir uns eins fühlen mit der uns angebotenen äußeren Form der Choreographie. Wenn das, was uns als tänzerische Anforderung schwierig erschien, in Fleisch und Blut übergegangen ist.
In den Wiederholungen der Tänze wird mehr die Introversion angesprochen, das Einwirken der äußeren Form auf die seelischen Entsprechungen.
Die bewusster extravertiert eingestellt Tanzenden werden in der Introversion der Wiederholungen mit ihren Aufmerksamkeit mehr nach außen gehen, sich auf ihr Sein der Welt beziehen. Während die bewusster eher introvertiert eingestellt Tanzenden  sich eher innerlich angesprochen fühlen werden. Sie greifen den äußeren Impuls auf, um darin eigene Bezüge wieder zu finden und offen zu sein für eigene Veränderungen.

Heimkommen kann als Zielorientierung unseres Selbstwerdungsprozesses (Indi-viduationsprozess) angesehen werden. „Werde, der du bist!“ bzw. „Werde, die du bist!“ umschreibt den individuellen Suchweg, bei sich selbst zu Hause zu sein. Ein Weg, bei dem wir uns immer wieder ent-scheiden und ent-täuschen müssen, was wirklich zu uns gehört oder nicht. Die Konzentration auf die Mitte als Zentrum unseres Seins kann uns helfen, das uns Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Heimkommen schließt aus, außer Haus zu sein, also an einem dem Heim gegenüber fremden Ort zu sein. Wir können nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Wir müssen uns entscheiden.
Bei sich selbst zu Hause zu sein bedeutet kein Ausschluss der Welt. Schließlich steht jedes Heim in der Welt. Vielmehr steht das Heim für einen Rückzugsort, in dem wir uns ganz auf das uns Wesentliche besinnen, um wieder in die Welt zu treten. (damit sind wir bei der ursprünglichen Übersetzung von meditari: nach-sinnen, nachdenken, sich üben, vorbereiten.)

Beim Heimgehen, in Abgrenzung zum Heimkommen, lassen wir die irdische Welt zurück. Wir kehren nicht in ein substanzielles Heim ein, sondern überschreiten eine Schwelle in eine uns unbekannte Sphäre. Wir gehen hinüber in eine Heim-vorstellung jenseits unserer weltlichen Vorstellung, über die wir zwar spekulieren können, die sich unserem überprüfbaren Bewusstsein jedoch entzieht. Und doch ähnelt das Heimgehen unserem Heimkommen in der Weise, dass wir uns vorstellen, dass wir in eine Sphäre zurückkehren, aus der wir gekommen sind. Das Einende ist die Vorstellung, an einem Ort angekommen zu sein, den wir mit Geborgenheit und Angenommensein assoziieren.
Gemeinsam mag diesen beiden Vorstellungen von Heim sein, sie uns als heil, heilsam und heilend vorzustellen. Was allerdings keineswegs einen spannungs-freien Raum bedeuten muss. Denn zum Heil-sein gehört die Vereinigung von Ge-gensätzen. So wie es auch zur Selbstverwirklichung gehört, das auf Erden zu verwirklichen ist, was wir auf den Himmel als einer „heilen“ Welt projizieren. Wie auch das Licht des Himmels, das Bewusstsein, mit dem Dunkel der unteren Welt, dem Unbewussten, zu verbinden. Wir kommen dort wie in einem Heim an, wo es uns gelingt, einen Ort zu finden und zu erleben, an dem unsere verletzte Seele heil werden kann. Ein Heim, das nicht auf einen jenseitigen Ort oder eine jenseitige Zukunft verschoben ist, sondern im Hier und Jetzt erlebt werden möchte.

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Günter Hammerstein, Tanz und Meditation, Onstmettinger Weg 7, 70567 Stuttgart, Telefon: 0711 7653729, E-Mail info@guenter-hammerstein.de