Bewegte Stille -Rückzug in die dunkle Zeit

Dem Thema der vierten Ausgabe von „Neue Kreise ziehen“ möchte ich mich Schritt für Schritt vom Symbolverständnis her nähern. Wie in meinen Amplifikationen (Anreicherungen eines Symbols) zu den jahreszeitlich orientierten Themen der vorherigen Ausgaben erheben die Ausführungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Rückzug

Dem Rückzug können verschiedene Motive vorangehen.

Angst kann ein Beweggrund sein, den Rückzug anzutreten, sich vor dem bedrohlich Erlebten zurück zu ziehen. Mit dieser Art des Rückzuges lässt sich Angst allerdings nicht bewältigen. Das Dunkle und Bedrohliche der Angst lässt sich nur erkennen, wenn wir stehen bleiben und uns der Angst stellen, ihr ins Auge schauen und verstehen lernen, was sie uns sagen will. Angst will aufgelöst werden, was bedeutet, sie als Botschaft zu verstehen, worauf wir im Leben achten sollten.

Das Bedürfnis nach Abstand kann einen Rückzug bedingen, damit etwas distanzierter betrachtet und abgewogen werden kann, was zu bedrängend erlebt wurde. Wenn wir zu dicht heran gehen, fehlt uns manchmal der Abstand, um auch vermeintliche Nebensächlichkeiten in ein Gesamtbild einzubeziehen.

Rückzug kann etwas Bewahrendes in sich tragen. Wenn innere Werte, Positionen oder Gefühle bedroht werden, hilft der Rückzug, um uns aus dem Spannungsfeld heraus zu ziehen. Bevor wir uns in Gefahr begeben, sollten wir den Rückzug nicht scheuen.

Wenn wir uns besinnen wollen, wir von äußeren Anforderungen erdrückt zu werden scheinen, ziehen wir uns zur inneren Einkehr zurück. Im Rückzug kehren wir uns unserem Innenleben zu, spüren auf, wozu wir möglicherweise den Kontakt verloren haben. Verschüttete Quellen wollen wieder geöffnet werden.

Wenn wir uns fremd geworden sind, uns nicht mehr im Innersten wahrnehmen können, führt der Rückzug über den Körper zu uns selbst. Bei uns selbst zu Hause sein, kann als Bild und Bewegung verstanden werden, sich auf das Körperliche zurück zu ziehen, im eigenen Körper beheimatet zu sein. Den Körper als das Eigene wahrzunehmen, als das Haus, in dem wir wohnen, von dem aus wir in die Welt treten, steht für einen Weg des Rückzugs, bei dem wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Sinnen, den Bezug zum Körper wieder beleben oder gar neu entdecken.

Die Psychotherapie kennt die Regression als Rückzug im Dienste des Ichs. Hier keimt das Wissen auf, dass die Regression Impuls für die Progression sein kann. Wir sprechen dann von einer progressiven Regression.

Wo bei der Regression der Impuls zur Progression fehlt, führt die Regression in die Depression. Vergleichbar einem Tauchvorgang ist es meist unumgänglich, in die Tiefe der Depression hinabzusinken, um aus ihr wieder herauf zu steigen.

Dunkelheit

Psychisch betrachtet erleben wir die Depression als dunkle Zeit, weil alles um uns herum dunkel und antriebslos erscheint. Der Rückzug ist hier nicht willentlich bewusst bewegt, sondern wir werden wie in einen Strudel hinabgezogen. Der Dynamik des Strudels gilt es bis zu dem Punkt zu folgen, bis wir die Kraft haben und der Strudel den erforderlichen Widerstand bietet, dass wir uns aus ihm heraus abstoßen können.

Nacht und Tag, Dunkelheit und Licht bewegen sich wie Polaritäten umeinander. Sie gehen auseinander hervor und sie fließen ineinander. Die Weisheit der Natur lässt uns mit erleben, dass in der Mitte der Nacht der neue Morgen beginnt, dass keine Dunkelheit ewig dauert, sie viel mehr in den aufbrechenden Morgen übergeht.

Aus diesem Erleben heraus nehmen wir psychisch die Hoffnung, dass das Licht die Dunkelheit besiegt. Wir erleben die dunkler werdende Zeit nicht mehr als bedrohlich. Wenn wir – außen wie innen - die Angst vor der dunkler werdenden Zeit verlieren, öffnet sich ein Freiraum, diese Zeit kreativ zu nutzen. Wenn die äußere Natur ruht, können wir uns der inneren Natur, dem eigenen Seelenleben zuwenden.

Die dunklere Zeit wird u. a. auch als „Brachzeit“ benannt. Da liegt die ausgelaugte Erde brach und erneuert sich durch vegetative Wandlungsprozesse. Wir pflügen die verbrauchte Erde um, wenden das Oberste zum Untersten, damit in der dunklen Tiefe der Mutter Erde aus dem Erschöpften neue Kräfte umgesetzt werden.

Dies gilt nicht nur für Wandlungsprozesse in der Natur. Auch in menschlichen Entwicklungsprozessen bedarf es des Umpflügens erschöpfter Lebensschichten. Wenn diese keine Kreativität hervor bringen, müssen wir die Spannung der Leere aushalten, bis aus der Erschöpfung die neue Lebenskraft aus dem Alten neu geschöpft werden kann.

Der Jahreskreis wandelt sich von Licht zu Dunkelheit und umgekehrt, kreist um das ewige Wandlungsprinzip von Stirb und Werde. Was wir festhalten wollen, entgleitet uns, weil es dem energetischen Prozess entzogen wird. Bewegung will bewegen, etwas in Gang setzen, einen Entwicklungsprozess initiieren bzw. fördern. Stillstand ist leblos, weil bewegungslos.

Bewegung

Der Impuls zur Bewegung kann aus verschiedenen Richtungen kommen. Es können äußere Einflüsse sein oder innere Regungen, die uns bewegen. Ob das Bewegt-Werden in ein Bewegt-Sein mündet, bedingt sich aus der Offenheit und Bereitschaft uns bewegen zu lassen, zuzulassen, dass wir uns vom Alten zum Neuen entwickeln.

Ein Selbstwerdungsprozess wird bewegt von fortwährenden Wandlungsschritten. Das einzige, was sich nicht wandelt, ist die Wandlung, bedeutet, Stagnation verhindert Entwicklung.

Ein Selbstwerdungsprozess ist immer auch ein Selbstreifungsprozess, ein Prozess in dem reift, was durch das Bewegt-Sein eingeleitet wurde. Dies ist nicht allein ein rational, kognitiver Prozess. Um die ganze Person zu erfassen, bedarf es auch der emotionalen Schwingung. Die emotionale Bewegung kennt viele Ausdrucksformen, etwa Freude, Glück, Schmerz, Trauer u. v. a. m..

Stille

Treten wir ein in die Stille, treten die Randgeräusche des Lebens zurück. Wir vermögen uns auf das Wesentliche konzentrieren. Im Stille-Werden können wir in Berührung kommen mit der alle Polarität einenden Urkraft des Seins. Die Zwei tritt zurück in die Eins, in die Einheit der Schöpfung.

Die Stille bleibt ein unergründbares Geheimnis. Sie öffnet uns immer wieder neue wie alte Erkenntnisse.

Im Getriebensein von Zeit, Anforderungen, Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen und vieles andere mehr sind wir einem „Lärm“ ausgesetzt, in dem wir oft genug nicht das eigene Wort unserer Seele hören, geschweige denn verstehen. Treten wir ein in die Stille, können wir vernehmen, was wir in unserer Anpassung an die Alltagsforderungen überhört oder übersehen haben. Die Stille kann uns den Weg weisen, wieder zu finden, was uns verloren gegangen.

Die Natur steht in der dunkler werdenden Jahreszeit keineswegs still. Sie läuft vielleicht etwas langsamer, aber sie ist in Bewegung. Das Licht nimmt ab, die Dunkelheit nimmt zu. Ein Geben und Nehmen. Das Licht nimmt sich zurück und nährt damit die dunkle Zeit.

Einzig in den zwölf heiligen Nächten, den „Rauhnächten“ zwischen Heilig Abend und Dreikönige scheint die Zeit still zu stehen. Eine staunende Stille über die Geburt des Lichtes in der Dunkelheit. Die Rituale der Rauhnächte spielen mit der Angst, dass, wenn die Zeit still steht, diejenigen Kräfte zutage treten, die uns ungeheuer sind, die den Entwicklungsschritt aus der Tiefe der Nacht in den aufsteigenden Morgen verhindern wollen.

Bewegte Stille

Bewegte Stille stellt keinen Stillstand dar. Es ist ein inneres Lauschen und absichtsloses Schauen. Sie ist die Offenheit für die Schwingungen der Stille. Im Raum der bewegten Stille lassen wir uns von der Stille berühren, uns von ihrer Kraft bewegen.

Bewegte Stille meint die Bewegung, den Impuls, der aus der Stille in uns aufsteigt. Stille zu werden, um aus ihr bewegt zu werden. Wenn wir hineintreten in die Stille, vernehmen wir die leisen Töne, die uns aufhorchen lassen und von einem tiefen, ungeahnten Wissen zeugen.

Meditatives Tanzen

Im Meditativen Tanzen gibt es verschiedene Momente, in denen wir bewegte Stille erleben können.

Die von der Choreographie initiierte Bewegung kann zu einem inneren Bewegt-Sein führen. Ein Schritt, eine Bewegung, eine musikalische Phrase vermag in uns etwas bisher Verborgenes ansprechen. Unser Bewusstsein öffnet sich für eine bisher verschlossene Sicht auf die eigenen Lebensschritte. Unsere Einstellung zum Leben wird bewegt.

Die Pause zwischen den Tänzen lädt ein stille zu werden. Nicht gleich ins Wort zu fallen, nicht die Emotion des Tanzes oder des Getanzt-Werdens in Worten festzuhalten.

Die Bewegungsimpulse des Tanzes schwingen in der Stille der Pause nach. Mit der Achtsamkeit unserer Empfindungsfähigkeit nehmen wir Rückwirkungen auf Körper und Seele wahr. Die Stille der Pause intensiviert und vertieft die Wirkkräfte des Tanzes. Was in der Konzentration auf Schritte und Bewegungen gebunden ist, kann in der Stille der Pause seine tiefere Wirkkraft entfalten und vom Bewusstsein wahrgenommen werden.

Das meditative Tanzen fördert einen Rückzug in die bewegte Stille, in der wir das uns Wesensgemäße erkennen und in uns bewusst fördern. In der Rückbesinnung auf den Symbolgehalt von Richtungen, Bewegungen, Schritten, Gebärden u. a. m. vollziehen wir einen Rückzug auf die tiefen in uns ruhenden Dimensionen unseres Seins. Der Rückzug öffnet Perspektiven unseres bisher verborgenen Seins, die unsere Persönlichkeit vervollkommnen. 

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Günter Hammerstein, Tanz und Meditation, Onstmettinger Weg 7, 70567 Stuttgart, Telefon: 0711 7653729, E-Mail info@guenter-hammerstein.de