Lebensbahnen - Heilung

Das Thema „Lebensbahnen – Heilung“ in Heft 2–2016 von Neue Kreise ziehen stellt zwei Begriffe gegenüber: den der Lebensbahnen und den der Heilung. Ersteres im Plural, zweites im Singular. Woraus abzuleiten wäre, dass es eine Auswahlmöglichkeit gibt, die eigene Lebensbahn zu wählen. Eine davon könnte der Weg der Heilung sein.
Um die Begrifflichkeit „Heilung“ mit Inhalt zu füllen, erscheint es hilfreich, einen Bezug zum englischen Sprachraum aufzugreifen. Da gibt es eine ethymologische  Verbindung aufzunehmen zwischen „holy“ für heilig und „whole“ für ganz, „wholeness“ für Ganzheit. Über diesen sprachlichen Umweg wird erahnbar, dass Heilung einen Zusammenhang hat mit Ganzheit, dass der Weg der Heilung eine Überwindung von Spaltung bedeutet, etwas zur Ganzheit zusammen gefügt werden will. Körper, Seele und Geist stellen eine solche Ganzheit dar.

Wenn wir in der Wahl unserer Lebensbahn dem Bedürfnis nachgehen, dass etwas in unserem Leben „heil“ werden möchte, können wir zugrundelegen, dass möglicherweise Lebensbereiche verloren gegangen sind, auseinander zu driften drohen oder unsere Ambivalenzen uns zerreißen scheinen. Die Spannung an diesem Zustand löst Leidendruck aus.  Wir möchten uns wieder als Einheit erleben, integer sein mit uns selbst. Betrüblicherweise sehen wir selten eine Not-wendigkeit zur Veränderung, wenn wir nicht ausreichend unter einer Befindlichkeit leiden. Ohne Leidensdruck verharren wir im Gewohnten, mag es auch noch so unbefriedigend sein.
Im Erleben des wieder Zusammen-Gefügten, was zuvor getrennt war, erfahren wir den heilsamen und somit auch heiligen Moment. Wobei „heilig“ nicht unbedingt sanft und wohltuend sein muss. Der Weg der Heilung kann auch sehr schmerzhaft sein, mit leidvollen Erfahrungen verbunden sein, die es gilt sich bewusst zu machen, um sie hinter sich zu lassen. Wenn die bislang bewusste Einstellung einer Korrektur bedarf, kann dies durchaus als schmerzhaft erlebt werden. Wie auch manche heilsame Medizin bitter schmeckt.

Im weiteren Verlauf dieses Artikels möchte ich auf die heilenden Aspekte des meditativen Tanzes eingehen.

Tänze können im Menschen Selbstheilungskräfte aktivieren. Dies entspricht von Anfang an der Bedeutung des rituellen Tanzes. In den frühen Kulturen wurden die Tänze ganz gezielt genutzt, um Heilkräfte in den Tanzenden zu aktivieren. In den traditionellen Tänzen dürften wir etwas von diesen tief gegründeten Erfahrungen aufnehmen.
Die Frage stellt sich, auf welchem Wege können diese Kräfte im Sinne einer Heilung geweckt werden? Genügt es, einfach nur zu tanzen oder bedarf es eines Weges, sich der in den Tänzen innewohnenden Kräfte bewusst zu werden? Manche Heilung geschieht zweifellos wie von selbst. (Wie ein Geschenk der Götter.) Andere Heilungen bedürfen eines bewussten Bewältigungsprozesses. Auf letzteres beziehe ich mich in den weiteren Ausführungen.

Der Tanz, der meditative insbesondere, initiiert einen Dialog zwischen dem Tanz und den Tanzenden, bei dem sich die im Tanz eingebundenen heilenden bzw. heilsamen Kräfte mit denen in den Tanzenden ruhenden Selbstheilungskräfte verbinden können.
Die Sehnsucht, geheilt werden zu wollen, setzt die Einsicht voraus, dass etwas in uns der Heilung bedarf. Die Medizin nennt dies Krankheitseinsicht. Sie ist Voraussetzung für den Heilungsprozess. Zu ihr zu gelangen, sich einzugestehen, heilungsbedürftig, d. h. krank zu sein, kann schon der erste Schritt der Heilung sein.

Bischof Isidor von Sevilla definierte im 7. Jh. in seiner „Etymologiae sive Origines“  Krankheit als ein aus der Mitte gefallen sein. Ähnlich sieht es die Traditionelle Chinesische Medizin. Gesundheit ist in ihrem Verständnis die Fähigkeit eines Organismus, variabel auf die Vielfalt von Herausforderungen zu reagieren. Ziel ist es, in Harmonie mit sich und dem Kosmos zu leben. Krankheit wird als ein Ungleichgewicht der Kräfte angesehen.
In der „Etymologiae sive Origines“ wird das Wort „medicina“ abgeleitet von „modus“, dem Maß und der Mitte. Beides elementare Anliegen des meditativen Tanzes.
Nach Hippokrates ist Heilung die Wiederherstellung der inneren und der äußeren Symmetrie, Ausgleich, Beseitigung oder Ableitung des Fehlerhaften, um das harmonische Fließgleichgewicht der Säfte und Kräfte zu ermöglichen.Das Meditative Tanzen regt diese ausgleichenden inneren Prozesse an. Im Einbeziehen der umtanzten Mitte wird auch die Einstellung zur inneren Mitte angesprochen. Die Schritte suchen mit Hilfe von Metrum und Rhythmus das eigene Maß. Die sich wiederholenden Bewegungen gewinnen zunehmend Ausdruckscharakter für innere Befindlichkeiten.

 

Der Meditative Tanze kann als Medizin im Sinne der oben erwähnten Definition von „medicina“ verstanden werden, wenn es ihm darum geht, den Menschen in seinem Bestreben nach Harmonie zu unterstützen.
Die heilende Wirkung des Meditativen Tanzens beruht darin, den Menschen zu bewegen, in Ordnung, d. h. in Harmonie mit sich und dem Kosmos zu gelangen sowie in Beziehung zu bleiben mit der eigenen und der transzendenten Mitte des Seins.

Verschiedne Krankheitsphänomenen stehen in dem oben skizzierten Verständnis für unterschiedliche Störungen des Gleichgewichtes. Im Heilungsprozess gilt es jene Selbstheilungskräfte zu animieren, die das verlorene Gleichgewicht wieder herstellen bzw. Defizite ausgleichen können.
Tänze, auch die meditativen, dürfen keineswegs als Allheilmittel verstanden und eingesetzt werden. Sie sollten nicht als Widerstand gegen eine medizinisch erforderliche Therapie missbraucht werden.Es gibt heilende Kräfte, die wirken spontan, sie tun einfach gut. Hier wirkt der Meditative Tanz im Sinne der Psychohygiene. Tänze regen die Erlebniswelt an, bereichern das Leben durch die in den Tänzen ausgedrückten Lebensthemen. In ihrer traditionellen Form spiegeln sie ein kollektives Wissen, einen Schatz der Völker wieder. C. G. Jung nannte diese Kräfte Archetypen. Sie sind von allumfassender Kraft und Wirksamkeit. In neueren Tanzschöpfungen können Bewegungen, Richtungen, Gesten und Gebärden als Symbole mit archetypischem Gehalt wirksam werden.

Um von persönlicher Bedeutung zu sein, müssen die Archetypen an ein persönliches Bezugsfeld gekoppelt sein, das C. G. Jung die persönlichen, d. h. biografisch bedingten Komplexfelder nannte. Sie sind durch den ganz persönlichen Lebensweg geprägt. Wir können sie als neuralgische Energiefelder verstehen, die anspringen, wenn sie durch äußere Ereignisse wiederbelebt werden. Dann melden sich spontane Reaktionen, nicht selten sehr affektvoll, die wir nur dann kontrollieren, d. h. in unsere Persönlichkeit integrieren können, wenn wir ihren früheren Ursprung erkennen, sozusagen vom aktuellen Auslöser zurückverfolgen, woher und seit wann dieser innere Konflikt besteht und angelegt war. Setzen wir uns mit diesen Komplexreaktionen nicht auseinander, laufen wir Gefahr, dass sie eine Eigendynamik annehmen, bei der sie uns beherrschen und nicht wir mit ihnen bewusst umgehen.
So einzigartig unser Leben auch immer wieder erscheint, gibt es durchaus immer wiederkehrende Konflikte und Brüche, die in allen Kulturen und zu allen Zeiten vorkamen. Ein solcher Urkonflikt wäre z. B. die Trennung von den Eltern mit all seiner Ambivalenz von Autonomie und Abhängigkeit. Ganze Märchen sind voll von diesem Thema. Verlief diese entwicklungspsychologische Trennung verbunden mit schweren seelischen Verletzungen, werden sie in Trennungssituationen wiederbelebt. Dabei können die emotionalen Reaktionen der Situation überhaupt nicht entsprechen. Auslöser und Wirkung stimmen nicht mehr überein.Neben dem persönlichen Bezug, dem Komplex, gibt es auch den kollektiven Bezug, den Archetyp, mit den Heilkräften aus der Schatzkammer des kollektiven Unbewussten. Im Archetyp sind heilende Kräfte enthalten wie sie zu jedem individuellen wie kollektiven Entwicklungsprozess gehören. Sie helfen, die Dimension der persönlichen schmerzhaften Lebensereignisse zu überwinden und diese in einem größeren, umfassenderen Entwicklungsprozess zu erkennen und aus ihnen die Kraft zu gewinnen, die hilft, den Schmerz zu überwinden und daran zu heilen.

Tänze können zwischen dem persönlichen Bewusstsein und dem kollektiven Unbewussten vermitteln, d. h. dass die Tänze jene Inhalte aus dem unerschöpflichen Reservoir des kollektiven Unbewussten dem persönlichen Bewusstsein zuführen können, die für den Selbstentfaltungsweg (Individuation) des Menschen von ganz persönlicher Bedeutung sind. Die Analytische Psychologie C. G. Jungs versteht diesen kommunikativen Prozess als Transzendente Funktion. Tänze können, müssen aber nicht diese Transzendenten Funktion fördern. Die Tänze bilden dann sozusagen eine Brücke zwischen dem persönlichen Bewusstsein und dem kollektiven Unbewussten, sie vermitteln zwischen diesen beiden Bereichen der Gesamtpersönlichkeit.

Die heilende Kraft der meditativen Tänze stellt eine Option dar, der wir uns mit unserer Bereitschaft öffnen können, berührt und angesprochen zu werden, wo wir es vielleicht gar nicht erwarten. Sie können uns unterstützen, uns zu einer vollständiger werdenden Persönlichkeit zu entwickeln.

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Günter Hammerstein, Tanz und Meditation, Onstmettinger Weg 7, 70567 Stuttgart, Telefon: 0711 7653729, E-Mail info@guenter-hammerstein.de