Reifezeit - gestärkt und verwurzelt

„REIFEZEIT – Gestärkt und verwurzelt“

Ist die „Reifezeit“ eine reife Zeit, also eine Zeit, in der sich etwas vollendet?

Wer die Realschule abgeschlossen hat, dem sprach man früher die „mittlere Reife“ zu, wer das Abitur bzw. die Matura erreichte, dem wurde mit der Zulassung zum Hochschulstudium die volle Reife anerkannt .

Wer an Erfahrung gereift ist, dem wird bestätigt, dass er die Herausforderungen des Lebens zu meistern verstand.

Im weiteren Verlauf möchte ich mich weniger mit der „Reifezeit“ als einer reifen, d. h. einer sich vollendenden Zeit auseinandersetzen als viel mehr mit der „Reifezeit“ als einer Phase der psychischen Reifung.

Die am Verlauf der Vegetation orientierte Reifung kann als Symbol für die menschlichen Reifungs- und Wachstumsschritte angesehen werden. Wenn etwas heranreift, hat es sich noch nicht soweit entwickelt, dass es uns nähren könnte. Eventuell haben wir eine Vorstellung, was wir ernten möchten, doch ob die Frucht wirklich reift, hängt von fördernden bzw. hindernden Faktoren ab, die nicht unbedingt in unserer Macht liegen.

Wachstumsschritte sind immer auch Reifungsschritte. Aus der Begleitung unserer Kinder wissen wir, dass Wachstumsphasen häufig Krankheiten, also Krisen vorausgehen. Von einer Lebensphase in die nächste zu wachsen setzt den Verlust des bisher Vertrauten voraus. Verweilen wir beim Bewährten, kann nichts Neues heranwachsen. Dann sind wir fixiert und nicht wandlungsbereit. Um eine nächste Lebensstufe zu erreichen, bedarf es der Aufgabe, oft genug auch des Opfers, um dem neuen Lebensimpuls den ihm gebührenden (Lebens-) Raum zu eröffnen. (Siehe hierzu Hermann Hesses Gedicht, „Stufen“)

Das Neue, in das wir hineinwachsen, ist uns unvertraut. Wir „fremdeln“. Wir sind noch nicht eingewöhnt und müssen uns erst noch mit dem Neuen vertraut machen.

Die Dynamik des Lebens gründet auf dem ewigen „Stirb und Werde“ (J. W. Goethe, Selige Sehnsucht). Dabei geht es nicht um eine Zielorientiertheit, so dass wir planen, programmieren könnten, was als reifes Lebensprodukt herauskommen sollte. Vielmehr erfordert dieser Prozess unsere Offenheit, die werden zu wollen, als die wir in unserem Innersten angelegt sind. Innere Orientierungen und äußere Bedingungen wollen aufeinander abgestimmt sein. Psychische Reifung geht mit Ambivalenzen einher. Verbunden sind diese Phasen mit einer oft nur schwerlich auszuhaltenden inneren Zerrissenheit. Sie zu bestehen, wenn wir die Herausforderung der Krise bestanden haben,  fördert die Reifung der Persönlichkeit.

Wie in der Natur die elementaren Kräfte (Erde, Wasser, Sonne, Luft) das Wachstum fördern, benötigt die menschliche Reifung Nahrung, Pflege, Unterstützung, Förderung und Zuspruch. In der Natur reift, was angelegt wurde, gesät oder gezeugt wurde. Ein genetischer Entwurf entwickelt sich, entfaltet die in ihm ruhenden Anlagen. Die Reifung ist jedoch in entscheidendem Maße von den äußeren Einflüssen abhängig. Unterstützen sie nicht, was Innen angelegt ist, kann sich ins Außen der Welt nicht in vollem Maße entfalten, was möglich wäre. Dann verkümmert, liegt brach, kann nicht ausreifen, was an Möglichkeiten bereit gestanden hätte.

Familiäre Verhältnisse, soziale Bedingungen und Beziehungen beeinflussen die Reifung eines Menschen. Sind sie in der Lage, die innere Anlage zu unterstützen und zu fördern, kann der Mensch zu seiner ihm wesensgemäßen Reife heranwachsen.

Je älter der Mensch wird, desto mehr Eigenverantwortung kann er übernehmen und in gewisser Weise korrigieren, was ihm versagt blieb. Ausgebliebene Förderung und Unterstützung kann in gewissem Maße nachgeholt werden. Was unser Wachstum behinderte oder gar beschädigte, kann nicht rückgängig gemacht werden. Doch können wir verhindern, dass wir übernehmen und fortführen, was unsere Entwicklung beeinträchtigt hat. Reifung bedeutet in diesem Zusammenhang, Vergangenes nicht zum Gegenwärtigen zu machen, stattdessen in Selbstverantwortung die Defizite wahrnehmen und befriedigen, die unser Wachstum hindern.

Wenn etwas reift, dann nicht nur, was substantiell seinen angelegten Entwicklungsverlauf nimmt. Auch Krisen benötigen eine Reifezeit. Da will reifen, was uns herausfordert, was bewältigt werden will. Wo schnelle Lösungen nicht verfügbar sind, bedarf es reiflicher Überlegungen, die verschiedenen Aspekte der Krise zu betrachten, zu analysieren und abzuwägen.

In Krisen kann es wichtig sein, aufzunehmen, was uns zuwächst. Wenn wir offen sind für Impulse von außen, hilft uns das, die innere Krise zu überwinden. Reifung beinhaltet, dass wir im Fluss unseres Lebens sind. In einer Krise staut sich die Energie des Lebensflusses. Sind wir uns der Blockaden bewusst, wo sie herrührt und welche biografische Geschichte mit ihr verbunden ist, können wir sie ausräumen und an der Krise reifen. Jede Krise birgt in sich die Chance zu wachsen und zu reifen.

Im Meditativen Tanzen können die persönliche Reifung fördernde Wachstumskräfte aufgenommen und verinnerlicht werden. Jede Symbolik des Weges, der Formen und Gebärden beinhalten in sich Potentiale, die als Wirkungskräfte genutzt werden, sofern sie vom Bewusstsein als Impulse für den persönlichen Reifungsprozess wahrgenommen werden.

Die Konzentration auf den Tanz vermag den Kopf frei machen von festgefahrenen Gedankenmustern und den Blick öffnen für bisher unzugängliche Erfahrens- und Erlebensweisen. Das Verweilen bei einem Tanz vermag, sich wieder zu holen, was verloren geglaubt. Das Meditative Tanzen ebnet die Achtsamkeit, zu erkennen, was bisher verborgen war und aufzunehmen, was bisher ungenutzt war.

Krisen engen unseren Blick nicht selten ein. Im Meditativen Tanzen kann unser inneres Auge sich öffnen für neue Sichtweisen. Vor allem das körperliche Erleben weist unsere eingefahrenen Denkweisen über die alten Muster hinaus zu neuen Perspektiven.

Das Meditative Tanzen erübrigt jedoch keinesfalls, den oft schweren Gang der Reifung zu gehen, zu opfern, was sich überlebt hat, aufzugeben, was uns keine Nahrung mehr bereit hält. Aus dem Meditativen Tanzen heraus kann sich unser Bewusstsein weiten, muss es sich jedoch nicht. Erforderlich wäre eine Achtsamkeit für die innerseelischen Prozesse, die im Meditativen Tanzen mitschwingen und angesprochen werden. In dieser Achtsamkeit vermag das Meditative Tanzen durchaus ein die Seele auf ihrem Selbstwerdungsweg begleitender Wachstums- und Reifungsprozess sein.

Das Meditative Tanzen als Übungsweg persönlicher Wachstumsschritte bedarf m. E. der Kontinuität. In häufigen Wechseln von Tänzen wie auch von Tanzanleitenden kann (muss sich nicht, kann sich aber) ein innere Widerstand verbergen, sich im Meditativen Tanz mit den inneren Reifungsprozessen auseinander zu setzen.

Wenn es gelingt, Tänze mit ihren innewohnenden Wirkungskräften zu verinnerlichen, können sie in uns anwachsen und unsere Reifung befördern. Wenn wir uns dagegen durch häufige Wechsel diesen Wirkungskräften entziehen, vergeben wir eine Chance der Reifung. Beharrlich in einem Tanz zu verweilen, uns von ihm inspirieren zu lassen und sich mit allem auseinanderzusetzen, was er in uns anregt, bietet die Chance, in die eigene Tiefe des Erlebens und der Seele hinabzusteigen und dort Antwort auf eigene Lebensfragen zu erhalten.

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Günter Hammerstein, Tanz und Meditation, Onstmettinger Weg 7, 70567 Stuttgart, Telefon: 0711 7653729, E-Mail info@guenter-hammerstein.de