Das kretische Labyrinth

in einem Fachkrankenhaus für analytische Psychotherapie und Psychosomatik

 

Nach anfänglicher Skepsis wie auch ängstlichen Vorbehalten gestand mir die damalige Klinikleitung zu, auf der Rasenfläche im Klinikgelände ein kretisches Labyrinth anzulegen. Bedingungen waren, dass den Hausmeistern keine zusätzliche Arbeit entsteht und das Labyrinth jederzeit anderen Planungen zu weichen hätte.

Die auf mich zukommende Arbeit scheute ich ebenso wenig wie die Aussicht, nur unter Vorbehalten das Labyrinth anlegen zu dürfen. Für mich war es im wahrsten Sinne des Wortes Neuland. Mich trieb eine Ahnung, dass das Labyrinth ein wichtiger Bestandteil der stationären Psychotherapie werden könnte, doch verfügte ich über keinerlei entsprechende (Vor-) Erfahrung. Weder mit dem Labyrinth noch mit Gartenarbeit.

Eine Teilnehmerin meiner damaligen Fortbildungsgruppe nahm Kontakt zu den Frauen des Nellinger Labyrinthes auf und unterstützte mich bei der realen Umsetzung der geistigen Pläne. Von den Nellinger Labyrinthfrauen erhielten wir einen Plan, wie das Labyrinth ausgemessen und angelegt wird.

Ausgestattet mit Metermaß, Schnur, Markierungspflöcken und Sägemehl machten wir uns unter den skeptischen Blicken einiger Kollegen ans Werk. Wir entschieden uns für eine Wegbreite von einem Meter, was zu einem Labyrinthdurchmesser von fünfzehn Metern führt.

Bald gesellten sich einige neugierige Patientinnen hinzu, die uns halfen, die Struktur des kretischen Labyrinthes auf die Wiese zu projizieren. Zug um Zug entstand jetzt nicht mehr nur vor unserem inneren Auge sondern ganz konkret begreif- und begehbar das kretische Labyrinth. Aufgeregt und voller Spannung schoben wir das erste Mal den Rasenmäher am Rande der mit Sägemehl ausgelegten Struktur. Stolz und freudig schritten wir das erste Mal durch das Labyrinth.

Gleich beim ersten Durchschreiten begegneten wir einer zwar nicht beabsichtigten aber doch absolut stimmigen Erfahrung. Aufgrund des etwas welligen Wiesengeländes ergab es sich, das die letzte Wegstrecke auf die Mitte zu leicht bergauf führte. Diese tiefgreifende Bedeutung berührt mich auch heute noch jedes Mal wieder aufs Neue. Für die letzte Wegstrecke bedarf es nochmals einer besonderen Kraftanstrengung, muss nochmals neue Energie aufgebracht werden.

Eine Woche später, anläßlich der Sonnenwendfeier, weihten wir das Labyrinth offiziell ein. Damit begann eine Tradition, die jahreszeitlichen Übergänge im Labyrinth zu begehen. Das kretische Labyrinth ist uns der Ort, an dem wir uns zu den verschiedensten Jahreszeitenfesten treffen. Im Schreiten oder im Tanzen nehmen wir die jeweiligen Aspekte auf unserem Labyrinthweg mit hinein und lassen es auf uns zurückwirken.

Von Anfang an suchte ich nach einem Weg, das kretische Labyrinth in den therapeutischen Prozess der Patientinnen und der Patienten zu integrieren. Es sollte nicht aus dem Rahmen der analytischen Therapie fallen, sondern in meinem Verständnis integraler Bestandteil eines therapeutischen Weges sein.

Dazu eignet sich das Symbol des kretischen Labyrinthes ohnehin in ausgezeichneter Weise. Bietet es doch einen Weg auf eine Mitte an, hier durchaus auch als Symbol für die Mitte der Selbsterkenntnis zu verstehen, der nicht geradlinig verläuft, sondern Richtungswechsel voraussetzt. Hinwendungen und Umkehren öffnen den Weg zum eigenen Selbst.

Die intensivere Nutzung des Labyrinthes als therapeutisches Instrument lebt und entwickelt sich zusehends weiter. Auch dies ein Prozess gegenseitiger Inspiration. Rückmeldungen der Patientinnen und Patienten ermutigen mich, voranzuschreiten und meine anfänglich nur als Ahnung existierende Vorstellung zu realisieren.

Von Anfang an war es für mich ein Abenteuer. In vieles musste ich erst einarbeiten und Erfahrungen sammeln. Im ersten Jahr habe ich einfach mal nur das wachsen lassen, was auf der zuvor mit Sägemehl markierten Struktur wächst. Bei einer über dreißigjährigen Wiese kommt da manches zum Vorschein, was sonst weggemäht wurde.

Wie ungewohnt das Bild eines die Wiese mähenden Tanztherapeuten war gibt die Bemerkung eines Kollegen wieder, für diese Arbeit sei ich aber nicht versichert. (Mit dem Rasenmäher habe ich mich bisher noch nicht verletzt. Dafür aber mit der Gartenschere schon zweimal kräftig in die Fingerkuppe geschnitten.)

Im darauffolgenden Jahr wollte ich weitere Wildgräser hinzufügen. Doch stellte sich bald heraus, dass sie sich gegen die Grundbewachsung nur bedingt durchsetzen konnten. Es war eine weitere wichtige Erfahrung, die zugleich auch für den therapeutischen Prozess von tiefgreifender Bedeutung war: damit neues Wachstum Wurzeln greifen kann, muss die alte (Erd-) Struktur bearbeitet werden.

Im Herbst grub eine Therapiegruppe die Labyrinthstruktur um. Das Unterste musste nach oben gewendet werden, damit sich die alte Bewachsung auflöst und dem neuen als Humus dienen kann. Wirklich harte und Schweiß treibende Arbeit. Für die Patientinnen und Patienten nochmals eine ganz neue therapeutische Erfahrung. Damit sich etwas verändern kann, müssen sie sich körperlich ins Zeug legen.

Gartenarbeit war für die meisten belastet von familiären Druck und Pflichtaufgaben. Patientinnen und Patienten für die erdnahe Arbeit am und im Labyrinth zu motivieren stößt immer wieder an diese Vorerfahrung. Wenn die Patientinnen und Patienten dann jedoch mal die unmittelbare Erfahrung mit Erde zugelassen haben, öffnet sie neue Erfahrungshorizonte. Erdspuren an den Händen sind nicht gleichzusetzen mit Schmutz.

Das dritte Wachstumsjahr war für mich eine herbe Enttäuschung. Ich getraue mich kaum, es zu berichten, weil ich einem katastrophalen gärtnerischen Anfängerfehler unterlag. Mir schwebte vor, das Labyrinth in gelb erblühen zu lassen. Leider übersah ich, dass sich über die Tagetes am meisten die Nacktschnecken freuen. In unmittelbarer Nähe zum Wald gelegen, war das mit Tagetes bepflanzte Labyrinth das wahrste Fressen für die Nacktschnecken.

Mein Kampf gegen die Nacktschnecken war in diesem Jahr hoffnungslos. Fortan jedoch unabwendbarer Bestandteil meiner Labyrinthpflege. Noch immer gibt es heftigste Kontroversen, wie mit den Nacktschnecken umzugehen sei. Ratschläge habe ich zwar schon viele erteilt bekommen, doch ließen sich die Schnecken davon überhaupt nicht beeindrucken.

Ich habe mich letztendlich entschieden, Sorge und Verantwortung für das Wachstum im Labyrinth zu tragen und was dem schadet, entgegenzuwirken. Mein schlechtes Gewissen gegenüber den Nacktschnecken nagt zwar an mir, doch habe ich bisher keinen anderen Weg gefunden, mich ihrer Gefräßigkeit zu erwehren.

Auf dem Boden der niederschmetternden (Tagetes-) Erfahrung ging ich dazu über, einmal die verschiedensten Wiesenblumen direkt ins Labyrinth auszusäen und darauf zu hoffen, dass sie für die Nacktschnecken wenig appetitanregend sind. Obendrein nutzte ich Frühlings- bzw. Osterrituale, um mit den PatientInnen und Patienten Blumensamen auszusäen und vorzuziehen. Dies erweiterte zudem den Prozess der rituellen Wachstumsbegleitung vom Aussäen, übers Pikieren bis hin zum Auspflanzen vor Ort. Der symbolische Bezug dieser Handlungen auf den eigenen therapeutischen Prozess wurde von den Patientinnen und Patienten dankbar aufgenommen.

Zu Beginn meiner Labyrinthanlage hatte ich es mit einem schweren Lehmmergel zu tun, der nicht unbedingt geeigneter Nährboden für Sommerblumen darstellte. Über die Jahre haben wir ihn schrittweise mit Sand und Erdballen der eingepflanzten Setzlinge angereichert und verbessert.

Das ermutigte mich im vierten Jahr, es vorsichtig mit Stauden zu versuchen. Und siehe da: sie wurden angenommen. Die Vielfalt des Wachstums nahm zu. In diesem, dem fünften Labyrinthjahr (2000) erblühte das Labyrinth in einer noch nie da gewesenen Farbenpracht. Inzwischen ist es derart in das Klinikgelände hineingewachsen, dass ich mir kaum noch vorstellen kann (es mir aber auch gar nicht vorstellen will), dass das Labyrinth aus der Klinikkultur verschwinden könnte.

Den Patientinnen und Patienten ist es zu einem wichtigen Ort der Sammlung und der (Weg-) Findung geworden. Wenn sie etwas umtreibt, vermögen sie über die Struktur des Labyrinthes ihren ihnen ganz eigenen Weg zu entdecken. Wenn sie halt- und orientierungslos zu werden drohen, bietet das Labyrinth ihnen an, sich wieder zu strukturieren. Wenn sie Sinn verloren haben, kann ihnen auf dem Weg durch das Labyrinth etwas Sinnvolles entgegenkommen. Wenn nach einer Therapie die innere Unruhe bedrohlich anzusteigen beginnt, gelingt es, über den Weg durch das Labyrinth zu einem Maß an Ruhe zu finden, bei dem die anstehenden Wendepunkte des Lebens bewusst angeschaut werden können.

Das Labyrinth stellt im Klinikalltag ein ganz sinnenhaften Ort der Sammlung und der Wegbereitung dar. Es steht für ein individuelles Angebot, alleine den Weg der Individuation zu beschreiten.

Der Umgang mit vorgegebenen Strukturen, an dem sich nicht wenige reiben und dagegen aufbegehren, wird im Labyrinth zur heilsamen und wegweisenden Erfahrung. Ohne Struktur gibt es keinen Weg. Es bedarf strukturierender Wirkkräfte, damit das verletzte und labile Ich stärkende und sein Heilwerden fördernde Erfahrungen sammeln kann.

Der Weg hinaus aus dem Labyrinth wird nach der Erfahrung der Mitte im Labyrinth nochmals zu einer gravierenden Entscheidung. Nehme ich den gleichen Weg nochmals auf mich? Dieses Mal jedoch zurück, rückwärts gerichtet, was jedoch ein Vorwärts meint, ein Hinaus in die Welt entlassen werden.

Die Versuchung scheint groß zu sein, nach dem Erreichen des Zieles über alle zuvor hilfreichen Strukturen hinweg, nach draußen zu gehen. Grenzen werden nicht mehr wahrgenommen, was zuvor Orientierung war wird übergangen. Der verlockende kürzeste Weg hinaus erweist sich als der Irrweg.

Denn es bedarf der zurück- und mitnehmenden Bedeutung des Rückweges, um die Erfahrung des Hineins und der Mitte in sich zu bewahren und zu integrieren. Damit das Ich an der unmittelbaren Erfahrung im Labyrinth wachsen und reifen kann, bedarf es der integrierenden wie auch transzendierenden Kraft des Bewusstseins.

In den zurückliegenden Jahren war das Labyrinth auch mir ganz persönlich ein Ort, an dem ich mich suchen und wiederfinden konnte. So manche Spannung und Verletzung habe ich im Labyrinth lassen und mich von der heilenden Struktur aufbauen lassen können.

Einige Projekte schweben mir bereits im Kopf. Eines davon habe ich vor Weihnachten umsetzen können. Das Labyrinth erstrahlte in fast vierhundert Teelichtern (geschützt in Marmeladengläsern). Es war ein leuchtendes Erlebnis, inmitten von Licht durch das Labyrinth zu schreiten.

Ein weiterer Wunsch muss noch warten. Im Frühjahr durch Tulpen und Narzissen zu schreiten.

Das Labyrinth bleibt lebendig. Es regt an. Ich bin gespannt, zu was es mich noch alles geleiten wird.

nach oben
Günter Hammerstein, Tanz und Meditation, Onstmettinger Weg 7, 70567 Stuttgart, Telefon: 0711 7653729, E-Mail info@guenter-hammerstein.de